LISA S. SILVERTHORNE
Die längste Nacht
Aus Angst, von Lord Cedric erneut geschlagen zu werden, umklammerte Darina mit den geschundenen, schlimm verbrannten Händen ihre Gebetsschnur aus Marmorperlen. Darauf sah sie zu dem fernen Steinkreis zurück und kroch vom Lagerfeuer fort. In der arg geschwollenen Wange pochte es schon.
»Steh auf!«, knurrte Cedric und holte wieder zum Hieb aus.
Rasch wich sie vor ihm zurück, die eine Hand vor dem Gesicht und die andere über ihrer Gebetskette.
»Ich tue, was du von mir verlangst!«, rief sie.
Als er darauf die Hand fallen ließ, widmete sie sich wieder ihrer Gebetsschnur, ließ die glatten Perlen nun zwischen den Fingern hindurchlaufen, dass sie gleich einen Stoß magischer Energie spürte, und hob dann mit dem Singsang an. Und jedes Wort der Macht und Kraft, das sie jetzt ins Dunkel der Nacht flüsterte, gab den Perlen einen Hauch von gelbem Glühen.
Lord Cedric wurde immer ungeduldiger und kniff sein verlebtes Gesicht vor Zorn zusammen. So böse hatte Darina ihn ja noch nie gesehen. Jäh lohte sein rötliches Haar in der kühlen Nachtluft, und sein Gesicht wirkte im flackernden Schein des Lagerfeuers verzerrt wie eine dämonische Maske. Ja, in dieser Nacht, der längsten Nacht des Jahres, wenn Zauber gegen Zauber kämpfte, gehörte er hierher, in diese trostlosen, öden Ebenen.
Seit Jahren forderte er den Kreis heraus und stellte dessen Macht infrage, ohne aber die Kraft zu haben, auch in dessen Energien zu schöpfen. Doch jetzt hatte er ihr in seinem Zorn gedroht, ihr Dorf zu zerstören, falls sie sich weigerte, ihm zu helfen. Denn er hatte in den Städten der Umgebung von ihren magischen Talenten gehört und hoffte, damit den Krieg gegen den mächtigen Kreis wagen und ihn sich und seinen Zielen unterwerfen zu können.
»Warum sind wir so weit vom Kreis weg?«, tönte er, die Hände auf die Hüften gestemmt, und funkelte sie böse an. »Meinst du etwa, ich sei ein dummer Schafhirte, den du hereinlegen kannst?«
»Viele Magien wandern diese Nacht über diese Ebenen, o hoher Herr. Der Kreis deines Lagers wird uns beschützen.«
Endlich bei der letzten Perle angelangt, ließ sie die Kette rückwärts durch die Hand gleiten und stimmte ihren Singsang von neuem an. Da wurde die gelbe Aura zusehends kräftiger – dunkelgelb musste sie sein, sollte die Magie bereit sein.
»Wieder nur Lügen!«
Cedric riss sie vom Boden hoch, stieß, schob sie in Richtung Steinkreis, so roh und grob, dass sie stürzte und ihr die Betschnur entglitt.
»Oh, du wirst mir diesen Moment des Triumphes nicht nehmen«, schrie er nun. »Ich werde vor dem Kreis stehen, wenn er mir seine Macht übergibt. «
Darina tastete indessen auf Händen und Füßen hastig und angsterfüllt im hohen Gras nach ihrer Kette. Ihr Leben hing davon ab! Schließlich sah sie zu ihrer Linken etwas gelblich im Grase schimmern – ganz glücklich griff sie danach. Wie kühl waren doch die Perlen in ihrer Hand, als sie nun wieder zu singen begann.
Bögen magischer Kraft wölbten sich mit blauen, roten Blitzen über die Ebenen. Und die Kräfte, die ringsum am Werke waren, ließen ihre Haare knisternd zu Berge stehen. Sie wusste, dass sie ihr Vorhaben schnellstmöglich zu Ende bringen musste. Denn der gefährlichste Ort für sie in einer Nacht wie dieser war hier in der Nähe des Großen Kreises.
Cedric sah sich schon ganz unruhig um.
»Hier wird es langsam gefährlich«, sagte er dann, ein wenig leiser. »Komm zum Ende, oder ich töte dich auf der Stelle!«
»Und wartest wieder ein Jahr auf die längste Nacht?«, fragte sie, den Blick auf ihre Perlen gerichtet, die in tiefem Goldton erglühten.
Noch einmal, und die Magie wäre potent genug!
Sie musterte den Steinkreis mit seinen schweren, tief in die Erde eingesunkenen Stelen. Sodann erhob sie sich und berührte die ihr am nächsten stehende Säule, spürte, wie sich der Stein unter ihrer Berührung sogleich erwärmte, sah, dass er in demselben dunklen Goldton zu glühen begann wie die Gebetskette in ihrer Rechten. Ein letztes Mal ließ sie also die Kette durch ihre Hand gleiten, ganz bis zum Ende hin.
Es war vollbracht.
Cedric hätte endlich Zugriff auf alle Macht, alle Stärke des Großen Kreises.
»Der Kreis ist dein«, sprach sie, trat einen Schritt zurück, hielt ihm die Gebetsschnur hin.
Und er hatte sie kaum in den Händen, als er an Prägnanz der Form verlor und sich von einem Augenblick auf den anderen in den Kreis versetzt sah! Ein satter goldener Glanz umfing die Säulen nun! Und Cedric sog wie im Rausch die Energie in sich ein, bis er von Kopf bis Fuß in goldenem Licht pulsierte. Als er sich satt getrunken hatte, wies er mit dem Finger auf Darina und rief böse lächelnd: »So wirst du meine neue Macht als Erste zu spüren bekommen. Du warst ganz schön dumm!«
Darina aber lachte und sah ihm ohne Furcht noch Angst in die dunklen Augen.
»Nein, du warst dumm, Cedric. Denn ich gab dir genau, was du verlangt hast. Du hast nun alle Macht des Großen Kreises in Händen. Aber nichts davon kann den Kreis je verlassen. Auch du nicht.«
Wutverzerrten Gesichts versuchte er, magische Blitze auf sie zu schleudern …
Darina aber scherte sich nicht darum und zog von dannen. Und sein Geschrei hallte über die Ebene und wurde schriller, als Angst sich zu Wut gesellte. Doch sie und ihr Dorf würden zum ersten Mal seit vielen Monaten in dieser Nacht gut schlafen.